02 | 2019 Fokus

Einsame Insel

Foto: © tanaonte - Fotolia

In weniger als 50 Tagen verlassen die Briten die EU und es gibt es keine verbindlichen Regelungen, wie der Prozess vonstattengehen soll. Vielleicht lässt sich noch Zeit für Verhandlungen gewinnen. Vielleicht wird es tatsächlich eine Einigung geben. Doch bis dahin muss mit einem No-Deal-Brexit gerechnet werden – ein Austritt als Eintritt ins Chaos.

Noch im November 2018 hatte das Institut der deutschen Wirtschaft rund 1.110 Industrieunternehmen und industrienahe Dienstleister befragt und herausgefunden, dass rund 60 % von ihnen sich in keiner Weise mit den Risiken eines harten Brexit beschäftigt haben. Weitere 25 % der Betriebe sind kaum vorbereitet. Gut gewappnet fühlen sich nicht einmal 2 % der Firmen. Was auf die deutsche Wirtschaft in diesem Falle zukommen könnte, haben wir hier zusammengestellt.

Die Rolle Großbritanniens

Großbritannien ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Europäischen Union. Und allen Commonwealth-Beziehungen zum Trotz: Die EU ist mit Abstand der wichtigste Handelspartner. Mehr als 45 % der britischen Exporte und mehr als die Hälfte der britischen Importe werden in der EU umgesetzt (Stand 2016). Für Deutschland hingegen ist Großbritannien immerhin der fünftwichtigste Handelspartner: Der Export in das Vereinigte Königreich macht rund 47 Mrd. Euro oder 1,4 % der gesamten deutschen Wirtschaftsleistung aus.

Etwa 2.500 deutsche Tochterunternehmen beziehungsweise Niederlassungen gibt es derzeit in Großbritannien. Dort sind insgesamt 450.000 Mitarbeiter beschäftigt – das entspricht 1,5 % der arbeitenden Bevölkerung. Natürlich werden nicht alle Arbeitsplätze wegen des EU-Austritts verloren gehen. Doch die Zahlen zeigen: Hunderttausende Jobs hängen am Handel der beiden Wirtschaftsmächte.

Automobilindustrie

2017 verkauften die deutschen Autobauer fast 770.000 KFZ nach Großbritannien, so der Verband der Automobilindustrie. Ihr Volumen macht rund 30 % der Exporte nach Großbritannien aus. Hinzu kommen die Zuliefererbetriebe. Allein Bosch beschäftigt in Großbritannien 5.200 Mitarbeiter. BMW und Volkswagen produzieren selbst in Großbritannien. Bei Mini in Oxford wird die Fabrik am 01. April 2019 vorübergehend geschlossen. Die sonst im Sommer übliche Wartungsphase wird wegen des Brexit vorgezogen. So will das Unternehmen möglichen Lieferengpässen begegnen. Andere Hersteller wie Jaguar Land Rover, Nissan, Ford und Vauxhall drosseln die Produktion oder verlegen sie ins Ausland, da fast sämtliche auf der Insel gefertigten Autos für den Export in die EU bestimmt sind. Die Beratungsfirma Deloitte hatte bereits 2017 berechnet, dass ein harter Brexit in der deutschen Automobilindustrie rund 18.000 Arbeitsplätze gefährden würde.

Chemie und Pharma

Nach der Automobil- und der Dienstleistungsindustrie ist die Chemie- und Pharmaindustrie am bedeutendsten für den europäisch-britischen Handel. Da die Gesetzgebung für chemische Stoffe und Produkte weitgehend europäisch harmonisiert ist, fürchten diese Branchen ebenfalls den ungeregelten Brexit. Jedes vierte in der EU verkaufte Arzneimittel wird in Großbritannien freigegeben, neben Präparaten britischer Hersteller auch die der dort ansässigen US-Hersteller. Auch werden viele Roh- und Wirkstoffe für den europäischen Markt über Großbritannien importiert. Im Fall eines ungeordneten Brexit dürften chemische Stoffe, die im Vereinigten Königreich für den Vertrieb in der EU registriert wurden, nicht mehr ohne Weiteres in der EU verkauft werden.

Pharmakonzerne wie Bayer, aber auch die Schweizer Novartis und Roche Pharma mieten in Großbritannien zusätzliche Lagerflächen und legen Notvorräte mit Medikamenten an, um Lieferengpässen vorzubeugen. Der zu erwartende Aufwand, den der Brexit mit sich bringen wird, beziffert das britische Pharmaunternehmen GlaxoSmithKline mit Einmalkosten von 90 Mio. Euro und jährlichen Zusatzkosten von rund 60 Mio. Euro. Ein Aufwand, den sich nicht jedes Unternehmen wird leisten können – oder wollen. Auf britischer Seite wird deshalb mit einer Verteuerung der Medikamentenversorgung gerechnet.

Finanzindustrie

Mehr als ein Drittel des gesamten Großkundengeschäfts im Finanzsektor der EU wird derzeit noch in Großbritannien abgewickelt. Rund 90 % der in Euro gehandelten Derivate, vor allem Zinsderivate und Währungsswaps, werden in London gehandelt.

Um nach dem Brexit weiter in der EU Finanzgeschäfte betreiben zu können, benötigen britische Geldhäuser rechtlich selbstständige Einheiten in der EU. Eine im Januar 2019 erschienene EY-Studie bestätigt, dass 36 % der befragten britischen Finanzunternehmen seit dem Referendum einen Teil ihrer Geschäfte oder Mitarbeiter aufs EU-Festland ausgelagert haben oder dies zumindest in Erwägung ziehen. Unter den Banken, Investmentbanken und Brokerfirmen liegt der Anteil bei 56 %. In Dublin, Luxemburg, Frankfurt und Paris wurden in diesem Zusammenhang 2.000 neue Stellen geschaffen, insgesamt könnten 7.000 Jobs der Umfrage zufolge aus London abgezogen werden. Und seit dem Referendum wurden Vermögenswerte im Wert von über 800 Mrd. britischen Pfund aufs europäische Festland verlagert. „Prepare for the worst, hope for the best“, so das Motto der Finanzunternehmen, deren Hauptziel es sei, ihre Kunden und Investoren vor jeder möglichen negativen Brexit-Auswirkung zu bewahren. Auch die Europäische Bankenaufsicht (EBA) zog von London nach Paris. Neben Paris sind Dublin, Frankfurt und Luxemburg gefragte Standorte. Laut Bafin sind derzeit mehr als 45 Finanzinstitute dabei, ihre Präsenz in Deutschland zu etablieren oder signifikant zu stärken. Immobilienmakler berichten bereits von einer starken Nachfrage auf dem Frankfurter Immobilienmarkt.

Die BaFin und die Bundesregierung arbeiten zudem an Regelungen, die auch im Falle eines Austritts ohne Einigung die Finanzmärkte funktionsfähig halten und unter anderem Bestandsschutz und Rechtssicherheit für Steuerpflichtige gewährleisten.

Maschinenbau

Für die deutschen Maschinen- und Anlagenbauer ist Großbritannien der viertgrößte Auslandsmarkt. Die verschiedenen Maschinenbausektoren exportierten 2016 gemeinsam Güter im Wert von 17 Mrd. Euro in das Vereinigte Königreich und erzielten einen Überschuss von 10 Mrd. Euro. Für den Maschinen- und Anlagenbau ist der EU-Binnenmarkt bereits vollständig europäisch reguliert und basiert überwiegend auf harmonisierten Normen. Vor allem neue Zölle  und eine zu befürchtende Auseinanderentwicklung technischer Normen und des Markenrechts würden die Maschinenexporte in das Vereinigte Königreich beeinträchtigen.

Logistik

Für den LKW-Verkehr wurde von der EU-Kommission für den Fall eines harten Brexit bereits eine neunmonatige Übergangsfrist vorgeschlagen, in der LKW aus Großbritannien wie bislang ohne Kontrollen den Kanal überqueren könnten. Bedingung sei allerdings, dass die britische Regierung die gleiche Übergangsregelung für Lastwagen aus der EU zusichere, wonach es derzeit aussieht.

Allerdings würde das Vereinigte Königreich nach dem Brexit – so der aktuelle Stand – den Zugang zum einheitlichen europäischen Luftraum verlieren. Um weiterhin in der EU fliegen zu dürfen, müssen für die Fluggesellschaften neue Luftverkehrsabkommen mit der EU vereinbart werden.

Für den Luftverkehr zwischen Großbritannien und dem Kontinent hat die EU eine Übergangsregelung vorgeschlagen. Doch noch Ende Januar kritisiert der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK), die Briten hätten sich bislang nicht mit dem Angebot der EU beschäftigt, im Falle einer ausbleibenden Brexit-Regelung einseitig den Flugverkehr aufrechtzuerhalten, sofern Großbritannien das auch erlaube.

Der Brexit wird teuer

Das ifo Institut hat bereits 2017 für eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) errechnet, dass in Deutschland die Pharma-, KFZ- und Maschinenbausektoren durch den Brexit am stärksten verlieren. Die Wertschöpfung könnte im schlimmsten Fall um 2,9 %, 1 % beziehungsweise 0,6 % fallen. Der deutsche Finanzsektor in Deutschland würde geringfügig gewinnen, doch die möglichen Wertschöpfungseffekte sind in allen Szenarien klein; im besten Fall beträge der Zuwachs 0,7 % oder rund 500 Mio. Euro. Die Chefvolkswirte der Sparkassen-Finanzgruppe rechnen aktuell mit einem Wachstumsrückgang um einen halben Prozentpunkt im Falle eines ungeregelten Brexit bei einem für 2019 prognostizierten Wirtschaftswachstum in Deutschland von 1,1 %.

Für die britische Wirtschaft schätzt der IWF die Wachstumsverluste im Falle eines harten Brexit auf vier Prozentpunkte in fünf Jahren. Diese Erschütterung wäre auch im Rest Europas deutlich zu spüren. Vor allem die irische Wirtschaft würde wohl ähnlich hart getroffen wie Großbritannien selbst. An den Finanzmärkten würde der ungeregelte Austritt gravierende Konsequenzen haben: Das Pfund dürfte nochmals deutlich abwerten, die Renditen britischer Staatsanleihen steigen und die Aktienmärkte nachgeben.

Die OECD bezeichnet den Brexit als eine Steuer auf das Bruttoinlandsprodukt, die der Wirtschaft dauerhafte und steigende Kosten auferlegen würde. 

Brexit-Notfallpläne

Ein No-Deal-Brexit ist für alle relevanten Branchen der Worst Case. Die EU-Kommission hat deshalb verschiedene Notfallpläne erstellt: Diese sollen jene Bereiche regeln, in denen größere Beeinträchtigungen für Bürger und Unternehmen der EU zu befürchten wären. Die Maßnahmen betreffen unter anderem Finanzdienstleistungen, den Luftverkehr, Zölle, die Klimapolitik und Erasmus+, das EU-Programm für Bildung. Die Maßnahmen sind befristet, von begrenzter Tragweite und werden von der EU nur dann erlassen, wenn das Vereinigte Königreich Gleiches ermöglicht.

Sämtliche eventuellen Kosten liegen mit dieser Aufstellung natürlich bei weitem nicht auf dem Tisch – von weiteren eng mit England verflochtenen Branchen wie beispielsweise dem Fischfang bis hin zu fehlenden Geldern in den Kassen der EU, wenn Großbritannien nicht mehr einzahlt, bestehen weitere Unsicherheiten.

Britischer Humor?

Übrigens: Die britische Regierung warnt davor, im April ins Vereinigte Königreich zu reisen, da bei einem No-Deal-Brexit auf Flughäfen und in den Häfen wegen der ungeregelten Flugrechte und Ein- und Ausreisebestimmungen Chaos ausbrechen könnte. Ein Hinweis, für den die Tourismusbranche im Vereinigten Königreich im Sinne ihrer Gäste gewiss dankbar ist. 

Seit Anfang des Jahres informiert die Bundesregierung auf folgender Homepage laufend über Neuigkeiten zum Brexit: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/europa/fragen-und-antworten-zum-Brexit-1569928

Weitere informative Links zum Brexit:

https://bdi.eu/themenfelder/europa/Brexit/

http://www.Brexit-kompendium.de/de/

„Are you ready for Brexit?“: Mit einem vom DIHK konzipierten Online-Tool unter www.ihk.de/Brexitcheck

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