03 | 2019 Markt

Chicken-Game

Nach den deutlichen Zuwächsen im Januar konnten die Finanzmärkte auch im Februar weiter zulegen. Allerdings fiel das Plus mit im Durchschnitt rund 3 % an den etablierten Aktienmärkten und mit 6,4 % beim Rohölpreis nicht mehr so hoch aus. Die Anleihenmärkte blieben ruhig und notierten ungefähr auf dem Niveau vom Jahresbeginn.

Mittlerweile sind es nur noch wenige Wochen bis zum offiziellen Brexit-Termin am 29. März 2019 und weiterhin ist keine Einigung auf einen geregelten Austritt in Sicht. Das britische Parlament wirkt zerstrittener denn je, was letztlich zur paradoxen Folge hat, dass die EU keinen echten Ansprech- oder gar Verhandlungspartner vorfindet, mit dem sie Kompromisse, Anpassungen oder eine Fristverlängerung abstimmen könnte.

Die Gräben im britischen Unterhaus sind scheinbar tief, allerdings ist der Verlauf nur schwer zu durchschauen. Einige Gruppen wollen den Brexit um jeden Preis, andere auf keinen Fall. Wiederum andere wollen ihn nur unter bestimmten Bedingungen, oder auch nicht, und wollen darüber hinaus ganz unterschiedlich reagieren, falls diese Bedingungen nicht eintreten sollten oder erreicht werden können. Dabei scheint allen Beteiligten klar, dass es bei einem unveränderten Fortfahren zu einem großen Unfall mit schweren Folgen käme. Da es keine substanziellen Vorbereitungen für den Ernstfall gibt, wären die wirtschaftlichen Schäden einer ausbleibenden Einigung für alle Beteiligten unkalkulierbar hoch.

Dennoch fahren sowohl EU als auch Großbritannien ihren Kurs unverändert fort. Die von bemerkenswerter Einigkeit geführte EU will den vorliegenden Vertragsentwurf nicht nachverhandeln. Das britische Parlament will den von britischer Regierung und EU gemeinsam erarbeiteten Entwurf so nicht annehmen, kann sich aber auch nicht auf eine eigene Verhandlungslinie einigen. Alle Akteure richten ihr Handeln scheinbar vollständig auf ein Einlenken der Gegenseite aus. Für eine Beantwortung der Frage, wer sich möglicherweise durchsetzt, kann das Chicken-Game aus der Spieltheorie helfen. Dabei fahren zwei Spieler mit hoher Geschwindigkeit im Sportwagen aufeinander zu. Wer ausweicht, verliert das Spiel, wer nicht ausweicht, riskiert sein Leben. Beide Spieler warten, dass der andere zuerst ausweicht, um nicht selbst zu verlieren. Maßgeblich ist für die Akteure bei ihrer Entscheidung „Ausweichen oder Weiterfahren“ also neben der Frage, was jeweils gewonnen oder verloren werden kann, auch diejenige, wie sich die Gegenseite verhalten wird.

In diesem Szenario scheint die EU zunächst im Vorteil: Sie hat das wesentlich größere Auto und deshalb bessere Überlebenschancen. Außerdem hat sie bislang bewiesen, dass sie den Wagen geschickt und sicher lenken kann. Allerdings würde die Siegprämie ihr Leben auch nicht wesentlich verändern. Etwas mehr Konjunktur in einem derzeit ohnehin guten Umfeld oder etwas mehr EU-Budget werden nicht über Wohl oder Leid der EU entscheiden.

Ganz anders Großbritannien: Die Briten treten im Mini gegen einen gepanzerten Mercedes an. Sie können bei einem Crash viel verlieren. Es könnte zu erheblichen Versorgungsengpässen und deutlichen Konjunktureinbrüchen kommen. Weitere Unternehmen würden abwandern. Drastische strukturelle und regulatorische Anpassungsprozesse würden unmittelbar ausgelöst werden. Folglich hat die EU zunächst Grund zur Annahme, dass die Briten bei der Anfahrt viel Tempo und Lärm machen werden, aber letztlich vor dem Crash doch Angst haben und ausweichen.

Soweit alles erklärt? Vorteil EU? Weit gefehlt! Mittlerweile sind die Briten zwar mit hohem Tempo und Lärm auf der Anfahrt. Allerdings machen sie der EU zunehmend glaubhaft, dass sie die Kontrolle über ihren Wagen verloren haben beziehungsweise dass nicht erkennbar ist, ob überhaupt jemand respektive wer im entscheidenden Moment in das Steuer greift. Das hieße für die EU, dass sie sich nicht auf die Angst der Briten verlassen kann, welche schon noch rechtzeitig ausweichen und dem vorliegenden Einigungsvorschlag zustimmen sollen, um die schlimmen Schäden eines ungeregelten Brexit, hauptsächlich für Großbritannien, zu vermeiden. Unter diesem Blickwinkel wirft die zunächst völlig irrationale Verweigerung der Briten, sich konstruktiv mit dem unmittelbar bevorstehenden Brexit auseinanderzusetzen, doch ein positives Licht auf die britische Verhandlungsstrategie. Leider attestiert auch die Spieltheorie einen praktisch unvorhersehbaren Ausgang der Verhandlungen.

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