Eigentlich wollten wir an dieser Stelle über die möglichen Perspektiven der deutschen Steuerpolitik einer Jamaika-Koalition und deren Folgen für die Wirtschaft und den Kapitalmarkt schreiben. Das abrupte Ende der Sondierungsgespräche macht nicht nur diesen Plan zunichte.
Als Grund für die Notbremse der FDP nannte der Parteivorsitzende und Verhandlungsführer Christian Lindner, man habe „keine gemeinsame Vorstellung von der Modernisierung unseres Landes und vor allen Dingen keine gemeinsame Vertrauensbasis entwickeln“ können. Strittig blieben offenbar wesentliche Punkte in der Bildungs-, Steuer-, Wirtschafts- und Einwanderungspolitik. So sah der aktuelle Verhandlungsstand keine Abschaffung des Solidaritätszuschlags in der aktuellen Legislaturperiode mehr vor. Diese allerdings war eine der zentralen Forderungen der Liberalen. Man sei für Trendwenden gewählt worden, die aber auf Basis des aktuellen Sondierungspapiers nicht erreichbar wären, so Lindner. Die Verhandlungsführer der anderen teilnehmenden Parteien CDU/CSU und Grünen zeigten wenig Verständnis und sahen sich offenbar bis dahin auf einem guten Weg.
Es schien so, als wäre Jamaika zum Erfolg verdammt. Das Wählervotum schien jene zusammenzuzwingen, die im Wahlkampf zum Teil völlig konträre Positionen vertraten und erbittert miteinander stritten. Streiten kann man natürlich auch innerhalb einer Regierung, ja selbst innerhalb einer Fraktion. Doch wenn die Sondierungsgespräche erfolgreich gewesen und auch die Koalitionsgespräche zu einem friedlichen Abschluss gebracht worden wären, hätte Deutschland eine außerordentliche Regierung bekommen: Gerade durch lange Vorbereitungszeit und die Breite der politischen Positionen hätte – mit gut der Hälfte der Wähler im Rücken – aktive Politik gemacht werden können.
Welche Optionen bleiben nun und was folgt daraus für Wirtschaft und Märkte?
Große Koalition als B-Lösung?
Rein rechnerisch ist die große Koalition die erste Alternative zum Jamaika-Bündnis. Doch die SPD hat bereits in der Wahlnacht klar Stellung bezogen und diese ausgeschlossen. Dass sie ihre Meinung nun doch noch ändert, ist mehr als unwahrscheinlich. Denn zum einen torpedierte sie damit ihre Glaubwürdigkeit und zum anderen hatte die Parteiführung ja gerade richtig analysiert, dass zu viel politische Nähe zur CDU das eigene Profil verwässere und die mangelnde Differenzierung ein Hauptgrund für die schwachen Wahlergebnisse der letzten Jahre sei. Parteistrategisch ist also der Gang in die Opposition nur konsequent.
Minderheitsregierung als starke Kraft in Europa?
Als zweite Alternative bliebe für Angela Merkel als Kanzlerin und ihre Union eine Minderheitsregierung. Da sich die FDP mit dem Abbruch der Sondierungsgespräche dafür disqualifiziert haben dürfte, bliebe eine schwarz-grüne Regierungskoalition als dann wahrscheinlichste Variante. Doch eine Minderheitsregierung, die in Skandinavien, insbesondere Dänemark, nicht unüblich ist, hätte es in Deutschland schwer. Hier gab es Minderheitsregierungen bisher nur als Übergangsregierungen für kurze Zeit. Eine starke Regierung, die der Führungsrolle Deutschlands in Europa und dessen Position im globalen Machtgefüge gerecht würde, wäre auf diesem Weg kaum zu erreichen. Zu kleinteilig und komplex wäre die Mehrheitsbildung zur Durchsetzung fast jeglicher politischen Entscheidung. Für die Modernisierung und Zukunftsgestaltung Europas wäre das ein enormer Hemmschuh.
Neuwahlen mit hoher Wahrscheinlichkeit und ungewissem Ausgang
Neuwahlen, mit denen in den vergangenen drei Wochen bereits mehrfach gedroht wurde, bleiben nun die wahrscheinlichste Alternative. Die Vertrauensfrage kann Merkel – anders als ihr Vorgänger Gerhard Schröder 2005 – nicht stellen, da sie seit der Wahl nur noch geschäftsführende Kanzlerin ist.
Nach der Verfassung müsste der Bundespräsident zunächst einen Kanzlerkandidaten vorschlagen. Erreicht dieser nicht die absolute Mehrheit (was in Merkels Fall wahrscheinlich wäre), würde die Wahl innerhalb von 14 Tagen wiederholt. Würde auch im zweiten Wahlgang nicht die erforderliche Mehrheit erreicht, langt im dritten Wahlgang dann die relative Mehrheit der Stimmen. Ohne Gegenkandidat ist das eine Formsache. Der Bundespräsident kann dann innerhalb einer Woche Merkel zur Kanzlerin einer Minderheitsregierung ernennen oder aber den Bundestag auflösen. Entscheidet er sich für die Parlamentsauflösung, müssen innerhalb von 60 Tagen Neuwahlen stattfinden.
Im schlimmsten Fall könnten bei Neuwahlen alle sondierenden Parteien Stimmen einbüßen, ohne deswegen andere Regierungsbündnisse zu ermöglichen. Nutznießerin des Debakels wäre unter Umständen die AfD.
Ob eine zweite Sondierungsrunde zu einer Jamaika-Koalition denkbar wäre, steht im Moment in den Sternen. Falls ja, könnte Christian Lindner hoch gepokert – und vielleicht gewonnen haben. Zumindest dürfte er dann seine Verhandlungsbasis in der Sondierungsrunde deutlich gestärkt haben.
Im besten Fall geht eine gestärkte, klar mandatierte Regierung aus der Neuwahl hervor, die regierungsfähig ist, ohne zu sehr auf bremsende Kompromisse angewiesen zu sein. Insbesondere für die Kanzlerin könnte es auf eine Schicksalsentscheidung zulaufen: Entweder sie geht mit Rückendeckung in ihre vierte Amtszeit oder die Wahl 2017 markiert den Anfang ihres politischen Abstiegs.
Was sagt die Wirtschaft?
Der DAX reagierte am Montagmorgen erst zögerlich auf die Nachrichten aus der Politik, zeigte sich dann jedoch weitgehend unbeeindruckt. Einmal mehr gilt offenbar, dass „politische Börsen kurze Beine haben“. Unterstützende Faktoren wie die anhaltende Geldflut der EZB und die Konsumlaune im beginnenden Weihnachtsgeschäft egalisieren zunächst den politischen Einfluss auf die Märkte. Unerwartete politische Entscheidungen scheinen in der heutigen Zeit kaum noch einen Marktakteur aus der Ruhe zu bringen. Man gewöhnt sich eben an alles.
Die mittel- bis langfristigen Folgen sind allerdings noch nicht abzusehen. Der drohende politische Stillstand könnte die Wirtschaft über kurz oder lang doch mehr belasten, als diese derzeit wahrhaben will.
Deutschland mit den zweithöchsten Belastungen
Die gefühlte und tatsächliche Belastung von Steuern und Sozialabgaben ist im Vergleich zu den 34 OECD-Staaten für ledige Angestellte nirgendwo so hoch wie in Deutschland – mit Ausnahme des deutlich kleineren Belgiens. Insbesondere Familien ächzen unter einem bedrückenden neunten Platz. Ein Zustand, der trotz geringer Arbeitslosigkeit von vielen als nicht gerecht empfunden wird.
Die gute Konjunktur mit guter Beschäftigungslage und Einkommenszuwächsen hat dieses Empfinden noch einmal verschärft: Die deutschen Staatsfinanzen stehen gut da. Dennoch stehen den in der Wahl versprochenen Steuersenkungen Investitionen (beispielsweise 16 Mio. Euro in Bildung) gegenüber, um die Politik im gewünschten Sinne zu gestalten. Die nationale Schuldenbremse begrenzt allerdings die Nettokreditaufnahme des Bundes auf 0,35 % des BIP (rund 10,6 Mrd. Euro für 2017).
Die Senkung der Einkommensteuer oder anderweitige Entlastungen für Familien, Mittelstand und Geringverdiener waren bei allen Jamaika-Parteien zentrale Wahlversprechen: Der Wert lag zwischen 15 (CDU) und 30 (FDP) Mrd. Euro. Doch über den Weg zur Erreichung dieser Ziele konnte keine Einigung erzielt werden, so dass zu befürchten ist, dass die Steuerzahler hier am Ende auf der Strecke bleiben und kaum eine Erleichterung in absehbarer Zeit erreicht wird.
Und ob die langfristigen Aufgaben, die vor Deutschland liegen (siehe unser Fokus-Thema „Nach der Wahl“), von der kommenden Regierung – wie auch immer sie aussehen mag – in Angriff genommen werden, kann im derzeitigen Stadium noch nicht abgesehen werden.
Sicher gibt es keinen Grund zur Panik, aber gesunde Vorsicht hat noch nie geschadet.