06 | 2019 Fokus

Nach der Wahl ist vor der Wahl

Zerbor – stock.adobe.com

Die Ergebnisse seien weitestgehend eingepreist gewesen, hieß es von Marktbeobachtern nach der Wahl. Allein das Abschneiden der Populisten sei von Relevanz gewesen: Hätten sie die etablierten Volksparteien überholt, hätte dies durchaus Einfluss auf die Finanzmärkte haben können, so der Tenor.

Dies ist jedoch nicht geschehen. Zur Erinnerung: Der Anteil der Sitze, den die europakritischen Parteien rechts der EVP errungen haben, liegt bei knapp 23 %. Allerdings: In Frankreich und Italien sind die Parteien Rassemblement National und Lega die stärksten Kräfte geworden.

Obwohl dies in anderen europäischen Ländern geschah, so war das Wahlverhalten mit Blick auf die Volksparteien EVP und S&D dennoch deutlich. Sie mussten einen Stimmenverlust von jeweils rund einem Fünftel der Wählerstimmen hinnehmen. Andererseits haben seit 20 Jahren noch nie so viele wahlberechtigte Bürger an einer Europawahl teilgenommen. Die Wahlbeteiligung lag bei über 50 %. Diese beiden Aspekte zusammengenommen lassen sich wohl dahingehend interpretieren, dass sich die Bürgerinnen und Bürger durchaus mit Europa identifizieren, sie sich jedoch eine andere Politik wünschen.

Börsen bleiben kalt: Politische Risiken werden zum Normalzustand

Kurzfristig hat das Wahlergebnis die Investoren weitgehend kaltgelassen. Eine Erklärung dazu liefert etwa Dr. Otmar Lang, Chefvolkswirt der Targobank: Politische Risiken ließen sich nicht mehr kalkulieren und seien zum Normalzustand geworden. Andere Marktbeobachter stellten fest, dass Investoren aus Sicherheitsgründen schon seit Monaten europäische Anlagen untergewichten würden.

Denn es liegt auf der Hand, dass mit dem etwas schwächer als erwarteten Abschneiden der Populisten keineswegs alles in Butter ist. Mit den neuen Mehrheitsverhältnissen nimmt vielmehr die Unsicherheit zu, wie es mit Europa weitergeht. Es wird in der EU noch schwieriger, Mehrheiten zu finden. Dabei braucht es mehr denn je ein Europa, das mit einer Stimme spricht, um nicht politisch zwischen China und den USA zerrieben zu werden. Allerdings sieht es derzeit eher danach aus, dass gerade in Deutschland und Frankreich der Fokus eher auf der nationalen politischen Ebene liegt, was die EU-Politik hemmen könnte. Ein wenig einladendes Szenario für Investoren.

Wahlergebnisse wirken sich auf nationaler Ebene aus

Darüber hinaus wirken die Wahlergebnisse wieder in die einzelnen Mitgliedstaaten zurück. In Deutschland haben diese bereits für Veränderungen an der SPD-Spitze geführt und die große Koalition geschwächt, auch und insbesondere durch das überragende Abschneiden der Grünen. Vor allem die jüngeren Wähler unter 44 konnten mit den Themen Klimawandel und Klimaschutz motiviert werden, ihr Kreuz bei den Grünen zu machen. Dies bedeutet unter Umständen einen Politikwandel mit Zukunftswirkung.

In Großbritannien hat das sehr gute Abschneiden der Brexit-Befürworter Theresa Mays Karriere ein Ende gesetzt: Als Vorsitzende der Tories ist sie bereits zurückgetreten, ein/e neue/r Premierminister/in wird wohl Ende Juli in 10 Downing Street einziehen. Die Kandidaten übertreffen sich derzeit darin, sich als Brexit-Hardliner zu profilieren. Keine entspannten Prognosen für die weiteren Auseinandersetzungen darüber, unter welchen Bedingungen Großbritannien die EU im Herbst verlassen wird.

Das gute Abschneiden der italienischen Lega befeuert erneut den Machtpoker des stellvertretenden Ministerpräsidenten Matteo Salvini um den nicht-EU-konformen Haushalt. Schon werden wieder Sorgen laut, der mit mehr als zwei Bio. Euro größte Schuldner Europas könne die EU in die nächste Eurokrise stürzen. Experten sind der Ansicht, dies würde weit schlimmere Folgen haben als die Griechenland-Krise. 

Personalentscheidungen mit längerfristiger Wirkung

Unmittelbar nach der Wahl haben sich die EU-Staats- und Regierungschefs nicht auf einen Nachfolger von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einigen können. Bis Ende Juni ist deshalb EU-Ratschef Donald Tusk damit betreut, Vorschläge für die neu zu besetzenden Posten zu machen: Neben dem des Kommissionspräsidenten und des EU-Außenbeauftragten muss auch entschieden werden, wer im Oktober Mario Draghi als Vorsitzenden der Europäischen Zentralbank (EZB) ablöst. Hierfür gibt es eine Handvoll aussichtsreicher Kandidaten, die sich unter Berücksichtigung von Nationalität, Geschlecht und Parteizugehörigkeit und der übrigen zu besetzenden Posten Chancen ausrechnen können. Auch Bundesbank-Chef Jens Weidmann gehört dazu.

Die Entscheidungen über die EU-Posten sind es, die langfristiger in die Märkte wirken werden, als das Wahlergebnis selbst. Insbesondere Jens Weidmann ist eine Personalie, die mit Sorge betrachtet wird, gilt er doch als Hardliner, der die Nullzins-Politik Draghis kritisiert. Schon jetzt formulieren Experten an seine Adresse, mit Augenmaß vorzugehen. Besonders Notenbankern aus der südeuropäischen Peripherie ist er ein Dorn im Auge. Ein „Falke“ auf dem Sessel des EZB-Chefs hätte durchaus Potenzial, die Märkte zu beunruhigen. Neben den EU-Krisengebieten ist die künftige EZB-Politik das heikelste Thema für die europäischen Aktienmärkte.

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