Gehen Sie am 24. September zur Wahl? Haben Sie sich vorher mit den unterschiedlichen Wahlprogrammen beschäftigt? Der eine oder andere mag auch den Wahl-O-Mat zu Rate gezogen haben, der die persönlichen Antworten auf 38 politische Fragen mit den Aussagen der wählbaren Parteien abgleicht. Um dann unter Umständen den Hinweis zu bekommen, dass er mit allen großen Parteien hohe Übereinstimmungswerte erzielt hat – zu ähnlich sind sich vielfach die Positionen. Zu wenige Reibungsflächen erzeugen zu wenig Spannung, zu wenig Energie. Am besten bleibt alles, wie es ist.
Die Chancen auf eine echte Überraschung nach der Wahl sind also gering, auch wenn es einige Unsicherheitsfaktoren gibt: Nach Aussage der Meinungsforscher wissen rund 50 % der Deutschen noch nicht, wen sie wählen sollen. Die hohe Zahl der Unentschlossenen könnte zu einem hohen Anteil von Nichtwählern führen. Wähler jenseits des Mainstreams sind unter Umständen nicht ehrlich gegenüber den Demoskopen. So könnte die AfD am Ende doch mehr Stimmen erhalten als prognostiziert.
Diese Punkte wären dafür verantwortlich, falls die kleineren Parteien mit ihrem schärferen Profil am Wahlsonntag den Volksparteien das Wasser abgraben sollten.
In dem Maße, in dem die Wahl daher – vermutlich – keine Überraschungen bereithält, wird sie auch keinen großen Widerhall an den Börsen verursachen. So gesehen kann wegen der Gewinnsituation in den Unternehmen, dem globalen Wirtschaftswachstum und der immer noch lockeren Zinspolitik der Zentralbanken auch in der nächsten Zeit von weiter positiv gestimmten Märkten ausgegangen werden. Es sei denn, die Nordkorea-Krise eskaliert…
Trends, über die keiner der Wahlkämpfer spricht
Dabei gibt es genug unterschwellige Einflussfaktoren, die es in absehbarer Zeit im Blick zu behalten gilt, wenn es um die Frage geht, wohin sich die Wirtschaft, Gesellschaft und mithin die Kapitalmärkte entwickeln.
Wachstumsfaktoren schwächeln
Der aktuelle Aufschwung ist in weiten Teilen zyklisch geprägt. Die eigentlichen Wachstumsfaktoren sind tatsächlich dabei, an Strahlkraft zu verlieren. Die Notwendigkeiten von Bildung, Partizipation und Spezialisierung auf Zukunftstechnologien sind zwar als Schlagworte gesellschaftlicher Konsens. Doch trotz voller Kassen haben es die Faktoren, welche die deutsche Wirtschaft auch noch in der nächsten Generation stärken würden, noch nicht wirklich auf die politische Agenda geschafft.
Wahlversprechen für die falsche Zielgruppe
Solide Staatsfinanzen und ein unerwartetes Plus in der Kasse sind kein Grund, teure Versprechen zulasten der Sozialversicherungssysteme abzugeben. Dass die Gesellschaft altert, ist kein Geheimnis. In absehbarer Zeit werden die Zinsvorteile, die jetzt den Finanzminister gut dastehen lassen, Geschichte sein. Die Zinsen werden wieder steigen. Auch der Anteil der älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung wird zunehmen, mit dem Renteneintritt der Babyboomer noch stärker als bisher. Die Rentenkassen und übrigen öffentlichen Haushalte wird dieser gesellschaftliche Umbau durch rückläufige Einnahmen (Steuern, Einzahlungen in die Sozialsysteme) bei steigenden Ausgaben (gesetzliche Rente, Gesundheit und soziale Pflege) stark belasten. Schon heute machen Sozialausgaben ein Drittel des deutschen Bruttoinlandsproduktes aus.
Zukunft der Arbeit
Mit Blick auf die kommende Generation, die nicht nur die Folgen des demografischen Wandels wird schultern müssen, stellt sich ganz grundsätzlich die Frage, wie wir in Zukunft arbeiten werden. Das Schlagwort der vierten industriellen Revolution – oder Industrie 4.0 – umreißt den Komplex nur abstrakt. Wo bleibt der Mensch in einer Gesellschaft der vernetzten Maschinen und Produktionsbetriebe? Wann und wie kippt der Facharbeitermangel in einen erneuten Überfluss an Menschenarbeitskraft? Welche Folgen hat es, dass Maschinen miteinander kommunizieren – und dabei eine eigene Sprache entwickeln, die Menschen nicht verstehen können? Schafft sich der Mensch mit der Entwicklung künstlicher Intelligenz selbst ab?
„Rekonstruktion eines demokratischen Europa“
Das klingt zu sehr nach Science-Fiction? Dann wenden wir uns einer ganz unmittelbar vor uns liegenden Baustelle zu: Die Rettung der EU. Ein „Weiter so“ wie in der Bundespolitik kann es nicht geben. Die Brexit-Verhandlungen und damit die Gestaltung der EU-Finanzen müssen ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Ist die nächste deutsche Regierung bereit für eine neue Führungsrolle in der EU?
Europäische Fiskalpolitik
Sie wird sich positionieren müssen, so oder so: Denn Frankreichs Präsident Macron macht ernst mit seinen Plänen, einen Haushalt für die Eurozone schaffen zu wollen, samt Euro-Finanzminister und Euro-Parlament. Das Ziel ist die „Rekonstruktion eines demokratischen Europas“, in dem unter anderem die Geldpolitik der EU von einer gemeinsamen Fiskalpolitik flankiert wird. Bei einem bildmächtigen und symbolträchtigen Auftritt in Griechenland kündigte Macron kürzlich an, bald nach der Wahl in Deutschland ein Programm für rund zehn Themenbereiche vorzulegen – um Europa umzugestalten.
Den Zeitpunkt für die Verkündung seiner Pläne hat Macron vermutlich mit Rücksicht auf Kanzlerin Merkel gewählt. Er will ihr, die er für seine Pläne braucht, vor der Wahl nicht schaden. Denn in Berlin wird man nicht begeistert sein – auch wenn Angela Merkel bereits Nähe signalisiert hat, als sie etwa auf der Bundespressekonferenz Ende August sagte, dass sie eine europäische Wirtschaftsregierung begrüßen würde. Folgt aus dem Brexit und dem Protektionismus des US-Präsidenten Donald Trump ein stärkeres Europa?
Europe first
Wenn Europa wieder als Erfolgsgeschichte erzählt werden könnte, die Integrationskraft ausstrahlt; wenn der europäische Wirtschaftsraum gestärkt gegen die sich abschottende US-Wirtschaft auftreten würde, wäre das eine gute, neue Basis. Eine Lösung für Europa, Ideen für einen sozialen Wandel, Bildung und Ausbildung für eine starke Wirtschaft – falls es eine Perspektive für die grundlegenden Aufgaben gäbe, würden das positive Signale für die Märkte und ein Fundament für eine gute Zukunft sein. Bis dahin bleibt alles beim Alten.