Schwellenland auf Schlingerkurs
Was ist passiert, dass der jetzige Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit seinen Mitbürgern vor einem Scherbenhaufen zu stehen droht? In den 2.000er Jahren hatte er den wirtschaftlichen Fast-Zusammenbruch des Landes abgewendet und war für politische Stabilität eingestanden. Heute fehlt die Perspektive, dass er es erneut schaffen könnte.
Vom Boom zum Scherbenhaufen
Seit Beginn der 2.000er Jahre war das Pro-Kopf-Einkommen der Türken um das Dreifache gestiegen. Ein Wirtschaftsboom, der die Stellung Erdoğans stärkte – Bewunderung und Erfolge an den Wahlurnen waren ihm sicher, trotz eines zunehmend autoritären Regierungsstils und einer stetig wachsenden Inflation. Zwei Gründe für die Mitte des Jahres aufgebrochene Krisenstimmung, nachdem Anleger plötzlich mit anderen Augen auf die Türkei blickten. Mitausgelöst, aber nicht verursacht, durch einen verheerenden Tweet des US-Präsidenten Donald Trump.
Krise mit doppelter Ursache
Machtkonzentration, Missachtung demokratischer Gepflogenheiten und der Menschenrechte – die Attraktivität des Landes hatte für ausländische Investoren bereits zuvor gelitten, ganz besonders nach dem niedergeschlagenen Putschversuch 2016. Die Bereitschaft, sich in der Türkei zu engagieren, sinkt seitdem – auch weil Anleger es nicht sonderlich schätzen, wenn der Staat Einfluss auf Wirtschaft und Zentralbank nimmt.
Doch die Begeisterung für die Türkei im Speziellen und die Emerging Markets im Allgemeinen hatte bereits seit 2013 nachgelassen. Damals hatte die amerikanische Notenbank angekündigt, ihre ultralockere Zinspolitik auf mittlere Sicht beenden zu wollen. Bereits die Ankündigung führte dazu, dass Investorengelder aus den Schwellenländern, darunter auch der Türkei, abgezogen wurden.
In dem Maße wuchs aber auch die Sorge darüber, ob die Türkei jetzt in der Lage sein würde, ihren Verpflichtungen in ausländischer Währung nachzukommen: Etwa für Öl und Gas, aber auch für westliche Produkte. Die Lira wertete weiter ab, die Inflation stieg an und überschritt bereits 2017 die 10 %-Marke.
Mit dem Smartphone gezündelt
Der Katalysator der sich seit August verschärfenden Entwicklung ist bekannt – die Androhung des US-Präsidenten, Zölle auf türkische Rohstoffe zu erheben. Unerhörte 21 % verlor die türkische Lira an diesem Tag gegenüber dem US-Dollar, seit Jahresbeginn sind es über 40 %. Die Inflationsrate schnellte im August wegen der sich verteuernden Importe hoch auf 17,9 %.
Seit dem Lira-Crash gibt es seitens der türkischen Politik keine hilfreichen Signale. Präsident Erdoğan nutzt seine Machtfülle nicht, um den Wertverlust der Währung einzudämmen und die Krise damit zu entschärfen.
Im Gegenteil: Zuletzt hat er seinen Einfluss ausgedehnt. So wurde die Führungsspitze des 200 Mrd. US-Dollar schweren Staatsfonds TVF ausgetauscht und sein Schwiegersohn Berat Albayrak ins Aufsichtsgremium gesetzt. Zudem hat sich der Präsident das Recht zugesprochen, über die Leitungsposten der Zentralbank zu entscheiden. Unternehmen und Immobilienkäufer sollen gezwungen werden, ihre Geschäfte in Lira abzuwickeln.
Quasi parallel dazu hat die Zentralbank kurz vor Redaktionsschluss jenen Schritt gewagt, den Investoren ersehnten und Erdoğan verteufelt hatte: Sie erhöhte die Zinsen deutlich um 625 Basispunkte. Daraufhin erholte sich die Lira etwas. Der türkische Präsident wird hingegen damit zitiert, Zinsen als „Instrument der Ausbeutung“ zu brandmarken. Das Bemühen der Zentralbank um Unabhängigkeit gibt unter Umständen etwas Vertrauen zurück, höhere Zinsen sind von der schwächelnden Wirtschaft allergings nicht ohne Weiteres wegzustecken.
Prognosen und Hoffnungen gedämpft
Die Ratingagentur Fitch hat ihre Prognosen für das Bruttoinlandsprodukt für dieses Jahr bereits gesenkt, von 4,5 % auf 3,8 %. 2019 sollen es sogar nur 1,2 % statt 3,6 % sein. Die von Reuters befragte Rabobank erwartet für 2018 noch 3,3 % gegenüber 7,4 % im vergangenen Jahr 2017. Einen weiteren Dämpfer erhielt die Türkei nach der Bonitätsabstufung ihrer Banken durch die Ratingagentur Moody’s.
Welche Dynamik könnte eine Wirtschaftskrise in der Türkei international entfalten, falls es nicht gelingt, die Büchse der Pandora wieder zu schließen?
Folgen der Krise weltweit
Die übrigen Schwellenländer spüren parallel und unabhängig von den Geschehnissen in der Türkei die Kapitalabflüsse ausländischer Investoren. Gravierende Probleme in der Türkei könnten auch dann für einen pauschalen Rückzug weiterer Anleger sorgen, wenn es eigentlich keine nennenswerten wirtschaftlichen Verbindungen gibt. Anleger neigen aber leider dazu, Assets über einen Kamm zu scheren.
Problematischer erscheinen die Verstrickungen europäischer Banken in der Türkei. Den Daten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zufolge schuldet die Türkei ihnen rund 175 Mrd. Euro, davon entfallen allein auf die spanischen Bankhäuser etwa 80 Mrd. Euro. Diese Summe entspricht fast einem Viertel ihres Eigenkapitals. Deutlich schmaler fällt das Engagement deutscher Banken mit rund 20 Mrd. Euro aus.
Mit Blick auf diese Zahlen urteilen die Kapitalmarktexperten von Black Rock, dass selbst ein massiver Forderungsausfall europäischer Banken wegen türkischer Zahlungsausfälle noch zu keiner systemischen Krise führen würde, auch wenn die Verwerfungen an den Aktienmärkten wohl nicht unerheblich ausfallen würden.
Türkei – kein Handelsschwergewicht
Für andere Sektoren fallen die Risiken eines wirtschaftlichen Kollapses wohl nicht stark ins Gewicht, auch wenn die rund 6.500 deutschen in der Türkei engagierten Unternehmen die Entwicklung natürlich mit Sorge betrachten. Tatsächlich liegt der Anteil der deutschen Exporte in die Türkei bei weniger als 2 % des gesamten Exportvolumens, die Türkei rangiert auf Platz 16 der deutschen Exportpartner.
Diese rein zahlenmäßige Interpretation vernachlässigt neben der menschlichen Komponente allerdings auch die politische Seite eines wirtschaftlichen Crashs. So treu sich die Türken in den Zeiten des Aufschwungs hinter Erdoğan gestellt hatten, ist doch ungewiss, ob sie auch dann zu ihm halten, wenn er sein Versprechen von Wohlstand und Stabilität nicht halten kann. Unter Umständen könnte das putscherprobte türkische Militär erneut seine Stunde sehen.
Geopolitische Risiken der Krise
Das Szenario eines destabilisierten Natopartners an der Grenze zum Nahen Osten ist derzeit alles andere als wünschenswert. Die Türkei hat aktuell rund 3,5 Mio. Flüchtlinge aufgenommen, die dort irgendwie ihr Auskommen finden. Sollte dies in einem wirtschaftlich geschwächten Land nicht mehr gewährleistet sein, würde ein neuer Exodus – unter Umständen ergänzt durch türkische Migranten – auf die EU und erneut insbesondere Deutschland zukommen. Der Besuch Erdoğans Ende September in Berlin könnte eine ganz neue Dringlichkeit bekommen.